Etwas physisch Großes sind sie allemal, Gabriele Chiaris Aquarelle. Gabriele spannt einen weißen Bogen Aquarellpapier, den sie wahrscheinlich von einer der im Atelier aufgestellten Rollen geschnitten hat, auf eine Tür. Eine Tür- das ist völlig falsch, denn das Brett liegt am Boden und misst fast zweimal so viel wie eine gewöhnliche Eingangstür. Trotzdem beginnt man das Aquarell auf diese Weise wahrzunehmen, denn was maltechnisch geschieht, ist in der Betrachtung nachzuvollziehen als das Betreten eines Raumes.
Der Vorgang selbst ist geplant. Die Fläche, meist präpariert, das heißt vorgeformt als Landschaft*, als minutiös gespannte Ebene oder mit Schablonen begrenzt, wird begossen oder bepinselt mit unterschiedlichsten Geräten: Der Besen der Bauarbeiter im Hof wurde entlehnt, ebenso finden für die Malerei entwickelte Utensilien Verwendung.
Was genau entsteht, entsteht durch die Dauer des Trocknens der Farbspur auf dem Blatt. Die mehrtonige Farbe trennt sich gerne in ihre Komponenten, schwere Pigmente sacken ab und saugen sich am Malgrund fest. Die Leichtesten wandern über die Lacken hinaus und bilden kristalline Zackenränder.
Das folgende Urteil ist ein wesentlicher Faktor der Arbeit: Ein Aquarell ist dann gut, wenn es zulässt, sich zu entfernen und sich wieder anzunähern, ohne herauszufallen, ohne nur auf die Elemente als Farbflächen (Lacken) verwiesen zu werden. Dann besteht es und wird aufgenommen. Gabrieles Aquarelle sind nicht gleichartig. Der Zufallsmoment ist ihnen gemein, doch was im Vorfeld geschah, lässt die Ergebnisse von monochromer Fläche über die Geste bis zum streng konstruierten Körper reichen. Wesentlich ist die Struktur der Arbeit: Geplantes Ziel – Zufall – Auswahl; Der Zufall wird durch die Auswahl angenommen oder abgelehnt, als Moment aber vorausgesetzt. Die Zielvorgabe kann sich dadurch nachtäglich ändern.
Kommen wir weiter hinein in die Arbeitsstube der Künstlerin, diesen Lebens- Arbeitsraum, der für Ersteres fast keinen Platz mehr vorsieht, denn wo Kunst entsteht muss alles andere möglichst ausgeräumt werden. Ein Zeichenplatz mit mäßigen Lichtverhältnissen, der das Arbeiten an bestimmte Stunden bindet, ist hier gelegentlich das Zentrum der Konzentration**.
Konzentriert, verkleinert, wird das Aquarell zu einer Zeichnung, die ohne Abstrich wiedergibt, was sich auf der großen Fläche befindet. Genauestens werden Raster angelegt, werden Markierungspunkte berechnet und übertragen, vom Großen aufs Kleine. Die fertige Ausführung verrät allerding nichts mehr von der manuellen, geradezu altmeisterlichen Technik, in der die Übertragung stattfand. Als „dessin d’après aquarelle“ betitelt finden sich die Zeichnungen im Katalog. Die Initiative der Zeichnung war dazu bestimmt, die Unmöglichkeit einer fotografischen Reproduktion zu umgehen. Allerdings sind die Produkte mehr als eine Möglichkeit der Verkleinerung, sie lösen die Motive aus ihrer Materialität, denn einerseits sind sie Aquarell, andererseits Zeichnung, zwei Möglichkeiten der Verkörperung desselben Sujets. Die Idee des Motivs wird dabei nicht in der gewohnten Art der elektronischen Entmaterialisierung gewonnen.
Natürlich - der gegenläufige Prozess ist nicht vorstellbar, also bleibt die Zeichnung ein Nachprodukt, wie auch immer. Ein Produkt der intensiven Auseinandersetzung, dessen „Röntgenblick“ auf das Verborgene dem Betrachter nicht entgeht: Die rationale Ordnung des scheinbar irrational Zufälligen wird hier entdeckt, in grafischen, stoischen Strichlierungen dargelegt. Keine Interpretation, sondern eine Sektion des Motivs findet statt***.
Tritt man einem Aquarell Chiaris gegenüber, ergibt sich das, was eingangs angedeutet wurde: Eine Form bläht sich körperhaft auf, ein Gitter versperrt den Raum, eine Fläche macht plötzlich auf. Wir betreten einen abstrakten Raum, gehen eine Runde darin herum und tasten uns wieder heraus. Es ist kein Zufall, dass nur wenige Aquarelle Chiaris bestehen können, denn viele sind es nicht, die fähig sind, uns derart aufzunehmen.
Gabriele Chiari hinterfragt in ihrer Malerei das Wesen von Einzigartigkeit und reflexiver Wiederholung. Im ersten Arbeitsvorgang schüttet sie Aquarellfarbe auf das Papier und lässt dem Zufall in der Entstehung des Fleckens freien Lauf. Dem Rorschachtest ähnlich, transferiert sie den spiegelverkehrten Abdruck der nassen Farbe auf die rechte Bildhälfte. Chiari eignet sich danach den roten Farbfleck an, in dem sie ihn mit Buntstift in akribischer Manier nochmals nachzeichnet.