My Place Or Yours

Kate Waters
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Galerie Frey Wien

Über DIE Ausstellung

Kate Waters, eine Romantikerin der Anonymität

Ein Essay über die Malerei von Kate Waters

Von Heinz-Norbert Jocks

Von vornherein scheint der Traum, der Wirklichkeit, in der wir leben, unmittelbar nahe zu sein, unerfüllbar zu sein. Allenfalls im Moment der Ekstase gelingt das kurze Aufgehen in der Wirklichkeit, die zeitweilige Koinzidenz mit dem Realen. Ansonsten stets das bedauerliche Gefühl, dass wir draußen, eben mit Distanz auf die uns gegebene Welt Blickende sind, was daran liegt, dass wir uns als Subjekte konstituieren, die aus allem, was uns umgibt, Objekte unserer Wahrnehmung zu machen versuchen. Die Obsession, Orte mit der Kamera festzuhalten, die vom Verschwinden bedroht sind, der Drang, Ereignisse wegen ihrer historischen Bedeutung in Bildern zu konservieren, oder die Sucht, exotische Reiseeindrücke mit der Kamera in handlichem Format einzusammeln, dies alles entspringt entweder dem reinen Bedürfnis nach Rettung verlorengehender Erinnerung oder dem Wissen um die Einmaligkeit. Ja, selbst der Fotograf, dessen Bild, in Sekundenschnelle aufgenommen, in digitalen Zeiten sofort sichtbar ist, rennt der Wirklichkeit hinterher. Denn deren Erscheinungsbild ist, kaum konserviert, bereits durch puren Wechsel des Lichts ein anderes geworden.

Falls dem so ist, dass die Fotografie das geeignetste, da ein mimetisches Medium ist, den flüchtigen Augenblick einzufangen, drängt sich die Frage auf, was Kate Waters eigentlich dazu veranlasst, es nicht beim Fotografieren zu belassen. Weshalb gibt sie sich nicht mit den Fotografien, die sie unterwegs in New York, London, Paris, Berlin, Venedig, in Kanada, Spanien oder sonst wo macht, zufrieden? Wieso ist es ihr so extrem wichtig, sich aus der Masse an Fotos, die sie archiviert, einige wenige als Vorlagen für Gemälde herauszupicken? Was macht den Unterschied zwischen der Fotografie und dem Gemälde nennenswert? Und was ist dadurch gewonnen, dass sie mehr Zeit dazu aufbringt, die Fotografie malend so nach zu modellieren, dass das Gemälde der Fotografie bis zur Beinah-Verwechslung ähnlich ist, als der schnelle Klick der Kamera gedauert hat? Ist dies nicht ein überflüssiges, gar absurdes Unterfangen? Schlägt Kate Waters diesen zeitopfernden Umweg ein, weil die ausgewählten Fotos etwas von ihrer inneren Stimmung wiedergeben und sie dieser malend nachspüren möchte, oder entspringt ihre ganze Mühe dem Verlangen, sich eine Schneise durch den wilden Bilderdschungel, mit dem sie, ebenso wir konfrontiert sind, zu schlagen? Womöglich weil in den fotografischen Momenten das erhellende Licht einer Bedeutung aufscheint oder der Fotografie der schöne Glanz von etwas Besonderem anhaftet, den sie herausheben, besser noch beleuchten möchte? Kurz, was hat es mit der Verdoppelung auf sich? Was ist deren Sinn oder Nutzen, das Surplus, das diese Form der Malerei rechtfertigt?

Das Merkwürdige ist, dass sie die Fotos, denen sie schon dadurch, dass sie diese dem Bilderpool entreißt, eine andere Aufmerksamkeit schenkt, keineswegs in Malerei verwandelt. Derart, dass sie das Malerische gegen das Fotografische ausspielt oder dass sie den Eindruck des Fotografischen dadurch aufbricht, dass sie durch Verändern von Proportionen, von Formen und Farben, durch Weglassen von Details, durch Verschiebungen, Verdichtungen oder durch Ergänzen von auf der Vorlage nicht auffindbaren Dingen eigene Akzente setzt, um auf diese Weise eine Subjektivierung zu betreiben, wozu selbst die digitale Fotografie kaum in der Lage ist. Nein, es geht ihr keineswegs um die Transzendierung der Fotografie derart, dass sie die feine Differenz zwischen beiden Medien kenntlich macht. Im Gegenteil: Waters verhindert sogar, dass wir uns beim Studieren ihrer Bilder immer auch der rein physischen Wahrheit der Farbe und des rein physischen Akts des Malens bewusst sind. Alles, was auf die Spuren des Malens verweist, wird so weit wie es geht, zurückgedrängt, gar verwischt. Ja, es gerät über das Primat des Fotografischen geradezu in Vergessenheit. Die mit Ölfarben Fotografierende setzt alles daran, dem Gemälde die Erscheinung einer Fotografie zu verleihen. Mehr noch, ihr kommt es im Wesentlichen sogar darauf an, dass die in Malerei übersetzte Fotografie sich an keiner Stelle und durch nichts von der Originalfotografie unterscheidet. Bis in Farbnuancen hinein überträgt sie die fotografische Vorlage mit allem, was auf ihr zu entdecken ist, auf die Leinwand. Sie weicht nicht einen Millimeter von dem Vorbild ab. Damit ihr dies gelingt, nimmt sie die Lupe zur Hand. Um nichts von dem, was die Fotografie ans Licht bringt, zu übersehen und um alles darauf Sichtbare auf der Leinwand zu bannen, sucht sie die fotografische Vorlage mithilfe der alles vergrößernden Lupe ab. Das Sehen wird so zu einer Reise über die plane, mit unzählbaren Einzelheiten besiedelte Fotofläche zwischen Farb- und Formübergängen. Als Malerin befasst sie sich also nicht mit der Darstellung von Realität, sondern mit der Nachstellung von Fotografie. Gerade deshalb ist sie darauf erpicht, deren Flachheit zu erzielen. Sie verändert nichts und greift auch nirgends ein. Allenfalls dann, wenn sie zwei Fotografien collagiert. Doch dieser Eingriff ist im Rahmen der digitalen Fotografie ebenfalls möglich, also keine spezielle Eigentümlichkeit von Malerei.

Wenn Fotografen mit Malern konkurrieren, indem sie ihre Formate denen der Maler anpassen und Bilder schaffen, die wie Gemälde aussehen, so vollzieht Kate Waters eine absolute Kehrtwende, indem sie ihren Gemälden das Aussehen einer Fotografie angedeihen lässt und die mimetische Annäherung an das von der Kamera Eingefangene mit der dem Auge entgehenden Detailfülle als Herausforderung an die Möglichkeiten der Malerei versteht. So, als wolle sie beweisen, dass diese der Fotografie in nichts nachsteht und alles das, was diese auszeichnet, ebenso beherrscht. Doch dies ist, wie wir noch sehen werden, nicht das eigentliche Ziel ihrer Malerei, sondern eine Begleitescheinung.

Ein Blick auf die Gemälde zeigt, dass sie nicht einmal besonders wählerisch zu sein scheint und sogar Fotografien heranzieht, die aus fotografischer Sicht nicht nur nicht perfekt, sondern völlig missraten sind, weil alles, was darauf festgehalten ist, wenn überhaupt, nur andeutungsweise, schatten- und schemenhaft zu erahnen ist. Ganz offensichtlich kommt es ihr nicht darauf an, eine an sich missglückte Fotografie zu korrigieren und das Unscharfe dadurch auszugleichen oder auszubessern, dass sie, mit Pinsel, Farben und Imagination nachträglich für Klarheit sorgend, das Undeutliche ins Gegenteil verkehrt und etwas wahrlügt, was von der Kamera eigentlich nicht aufgenommen wurde. Sie akzeptiert das Unscharfe nicht nur als eine Gegebenheit, sie heißt es auch als Motiv ihrer Malerei willkommen, welches ihr ermöglicht, zwischen Abstraktem und Konkretem zu oszillieren. Der Rückgriff auf Fotografien, die nur einen blassen Touch des einst Gewesenen vermitteln, geschieht also nicht deshalb, weil diese an Situationen, Szenen oder Erlebnisse erinnern, die sie mithilfe der Malerei konkretisieren, präzisieren, quasi scharfstellen möchte. Worum geht es ihr dann?

Nehmen wir als Beispiel den Schnappschuss von einer unbestimmten Personengruppe auf der Straße mit einem Eingeschränkten-Halteverbot-Schild, vor Schaufenstern versammelt, aus denen grelles Licht so diffus nach draußen dringt, dass dieses, auf die in Dunkelheit liegende Straße stoßend, sich über diese ergießt. Über der Gruppe das grelle Leuchten einer Lampe. Doch nicht ein Gesicht ist erkennbar, nur Umrisse. Alles in die Anonymität versinkende Schattenfiguren, deren Profile entweder durch das Licht überblendet oder von der Dunkelheit wie von einem Schwamm aufgesaugt werden. Aufgenommen aus sicherer Entfernung, von der gegenüberliegenden Straßenseite hinter einem Auto, über dessen Dach hinweg. Erst wenn wir länger und konzentrierter hinschauen und anfangen, uns in der von diffusem Licht durchfluteten Dunkelheit vorzutasten, um die aufgeweichten, fast verflüssigten oder zu Luft mutierten Formen zu identifizieren, erfassen wir Fundamente der Häuserfassade, die Straßenpoller am Rande des Trottoirs und den bewölkten Himmel über allem. Alles ist in Auflösung begriffen, dabei entweder von dem künstlichen Licht oder von der nächtlichen Finsternis ins Unbestimmte gerissen und dabei von dem Licht wie mit einem Rakel überzogen. Der Übergang zwischen dem gerade noch Benennbaren und dem bereits Abstrakt-Gewordenen ist hier so fließend, dass das Auge ohne den Geist, der das nur vage Erkennbare anhand von wenigen Anhaltspunkten und mithilfe von Déjà-vus interpretiert, orientierungslos umherirrt und nichts von dem bezeichnen kann, was sich ihm darbietet. Sehen heißt, etwas Gesehenes in Benennbares übersetzen, und Übersetzen erweist sich als ein uns nicht bewusster, interpretatorischer Akt. Ist es diese Einsicht, die uns Kate Waters liefern möchte, oder hat sie etwas ganz Andres im Sinn, wenn sie sich für die äquivalente Übertragung sämtlicher Details einer Fotografie mit Ölfarben auf Leinwand entscheidet?

Gehen wir über zu einem anderen Bild, das sie nach einer in Berlin am Rosenthaler Platz gemachten Fotografie gemalt hat. Wieder eine nächtliche Straßenszene mit Passanten. Beobachtet von der Terrasse eines Cafés mit roten Plastikstühlen und Bistrotischen, auf dem Gläser und eine Tasse stehen, die glasklar zu erkennen sind. Von hier aus richtet sich der absichtslose Blick der rotweintrinkenden Fotografin auf den Platz mit der U-Bahnstation in unmittelbarer Reichweite hinüber zu der Häuserfassade auf der anderen Seite des mit Ampeln gesicherten Platzes. An ihr vorüberschießend drei Figuren, eine Frau vorweg und hinter ihr zwei Männer, von denen einer asiatischer Herkunft sein könnte. Dahinter zwei Fahrräder, an dem Gelände der U-Bahnstation angekettet, an dem ein junger Mann sich angelehnt hat, und im Hintergrund zwei weitere Personen, die gerade, jede für sich, die Kreuzung überqueren. Alles in allem eine Szene, wie sie sich tagtäglich in jeder Großstadt ereignet. Und von daher das Wundern darüber, was die Malerin an diesem fotografischen Moment wohl reizt, zumal auch hier die Unschärfe dominiert und die Gesichter durch deren Bewegung so verformt sind, dass diese, ohne dass dies intendiert ist, an die deformierten Figuren eines Francis Bacon erinnern. Die Gesichter, die bei ihr nicht das Aggressive wie bei Bacon haben, sind so verschwommen, dass sie nicht nur verblüffend ausdruckslos anmuten. Sie lassen auch von vornherein gar keinen Ausdruck erkennen. Kate Waters übernimmt als Malerin die Doppelbelichtung der Fotografie, weil durch sie verhindert wird, dass wir in die an ihr Vorbeilaufenden etwas hineinprojizieren und diese uns Einblick in einen Charakter gewähren. Weil es gar keine Tiefen gibt, lassen sich hier auch keine verborgenen Tiefen entdecken. Alles ist Außenansicht und reduziert auf den Hauch der flüchtigen Bewegung, mit der die Namenlosen, an der Fotografin vorbei, ins Irgendwo entschwinden, noch ehe wir ihre äußere Erscheinung erfassen können. Vor uns nur leere Ahnungen von Existenzen, die sich als undurchdringliche Oberflächen erweisen. Es ist nicht einmal möglich, sich eine Vorstellung von ihnen zu machen. Weder erkennen wir, ob sie schön oder hässlich sind, noch ihre Herkunft lässt sich bestimmen. Diese kaum, dass wir sie erblickt haben, sich uns wider Entziehenden stellen keine Persönlichkeiten oder Charaktere dar, die, der Anonymität entrissen, Rätsel aufgeben oder symbolhaft für etwas stehen. Kate Waters hat weder ein Interesse daran, den Figuren eine Bedeutung zuzuschreiben, noch eine Schwäche für Geschichten, die das lose Dargestellte in einen narrativen Zusammenhang pfercht. Im Gegensatz zu dem von ihr geschätzten Edward Hopper, der Menschen in Übergangsituationen darstellt, so dass uns unwillkürlich die Frage anspringt, was ist dieser Szene der trügerischen Ruhe vorangegangen oder was wird ihr folgen. Während Hopper wie ein Filmregisseur eine Spannung dadurch aufbaut, dass er beispielsweise Menschen beiderlei Geschlechts wie ein Voyeur von der dunklen Straße aus durch ein Fenster erspäht, ohne dass dort etwas Außergewöhnliches geschieht, oder dadurch, dass er eine auf einem Bett Sitzende erwartungsvoll durch ein Fenster hinaus ins Freie blicken lässt, ohne dass wir sehen, was sie sieht, lässt Kate Waters uns an Szenen ohne Spannungsbogen derart partizipieren, dass wir uns an die Betrachtung der Straßenszene regelrecht verlieren. Bei ihr nichts Unheimliches wie bei Hopper, aber auch nichts Anheimelndes. Angesichts der entfliehenden Augenblicksgestalten auf dem Platz in Berlin fragen wir uns nicht einmal, wohin sie gehen, woher sie kommen oder was sie vorhaben. Ihren von keiner Identität belasteten Passanten hängt Kate Waters weder eine Vorgeschichte noch eine mögliche Nachgeschichte an. Von irgendwoher auftauchend sind sie für einen Moment da, um bald darauf wieder entschwunden zu sein. Ganz nebenbei visualisieren dieses kurze Dasein und wieder Wegsein der Passanten die mit der Dynamik der Zeitlichkeit einhergehende Unmöglichkeit der Fixierung.

Fürwahr, sie ist eine Romantikerin der Anonymität. Sie verarbeitet die Anonymität zu schönen Bildern, die als Malerin das, was die Fotografien zufälligerweise aufgeschnappt haben, bewusst einsetzt. Und da passen ihr die Gesichter ohne Physiognomie gut ins Konzept, weil diese sich durch die Ausblendung ihres Ausdrucks gegen jegliche Einordnung immun sind. Die Lesbarkeit der Gesichter mithilfe eines psychologischen Blicks wird so von vornherein verhindert. Es gelingt uns nicht, die Distanz zwischen den Figuren im Bild und uns Betrachtenden zu überwinden, indem wir uns die Gesichter vertraut machen, ihnen Attribute und Eigenschaften zuweisen. Dadurch bleibt uns nicht nur deren innere Welt verborgen, sondern auch jegliche Recherche erspart. Über die Ferne zwischen dem Beobachteten und der Beobachtenden teilt sich uns darüber hinaus zudem das Gefühl der Unzugehörigkeit mit, welches Kate Waters der Welt gegenüber empfindet. Bedingt durch den Beruf des Vaters, einem Geologen, war sie es, geboren im kanadischen Valee Lourdes, seit ihrer Kindheit gewohnt, immer wieder die Orte zu wechseln. Wohl deshalb angesichts ihrer Bilder der Eindruck, dass sie den von ihr aus Farben gewonnenen Orten wie hier dem Rosenthaler Platz mit Distanz begegnet. Zu einer Koinzidenz von Drinnen und Draußen kommt es so wenig wie zu der Idealisierung eines Ortes.

Eine Folge des Lochs in der Darstellung der Passanten, deren Wesen sich in reiner Oberflächlichkeit erschöpft, ist, dass wir uns in keinen Details verlieren, sondern das Bild als Ganzes und als Träger einer melancholischen Atmosphäre wahrnehmen. Natürlich geht es ihr auch darum, unspektakuläre Szenen mithilfe von Farben so nah wie möglich an der Fotografie nachzubilden, die denen ähnlich sind, die wir zwar kennen, aber rasch wieder in den Hintergrund gedrängt haben.

Die Tatsache, dass Kate Waters nicht nach der Realität malt, sondern auf eine Fotografie reagiert, die Fehler aufweist, die beim Fotografieren entstehen, lässt vermuten, dass es ihr in diesen Fällen um genau die durch unprofessionelles Fotografieren verursachten, ästhetischen Effekte geht. Dazu gehören die feinen Farbübergänge ebenso wie das sanfte Fluten zwischen matten und glänzenden Tönen, die raffinierte Lichtdramaturgie und die Spiegelungen wie die in dem Straßenszenebild „Out of frying Pan and into the fire“ (2020). Zu sehen sind ein Strom von Menschen mit Regenschirmen und Autos in London auf der Regent Street in Richtung Piccadilly zur Zeit des Brexit. Die glitzernde Nässe des Straßenpflasters und Bürgersteigs und die Wolkenlosigkeit des blauen Himmels markieren den kurzen Moment nach einem hereingebrochenen Sturm, der sich gelegt hat. In den Augen von Kate Waters ist diese Szene ein Sinnbild für den Brexit. Neben den Straßen, auf denen sich das Leben in Anonymität vollzieht, sind auch Strände, an denen sich Badende und Sonnende vergnügen, und Museen, in denen die Vergangenheit in Gestalt von Kunstwerken in die Gegenwart der Besucher einbricht, bevorzugte Wahrnehmungszonen. Unter den Museumsbildern springt „Larger than Life“ (2016) wegen seiner Aktualität besonders ins Auge. Es zeigt, wie Besucher ohne einen Blick auf das 4,91 × 7,16 Meter messende, 1819 entstandene Gemälde „Floß der Medusa“ des Romantikers Théodore Géricault vorbeilaufen. Dabei korrespondiert aus der Perspektve von Kate Waters die von dem Franzosen dargestellte Tragödie mit dem verheerenden Drama der an europäischen Ufern strandenden Flüchtlinge, das genau in dem Jahr, da die Kanadierin ihr Bild nach einer Fotografie malte, in das Bewusstsein der Medien gelang. Was die kritische Frage aufwirft, was Kunst überhaupt vermag?  Für Kate Waters scheint der Reiz der Museumsszene darin zu liegen, dass sie sich einerseits malend an einem Meisterwerk messen und andererseits dessen Zeitlosigkeit dokumentieren konnte. Die Lehre der Dauer korreliert hier mit dem traurigen Blick auf das Leiden, das sich in der Menschheitsgeschichte wiederholt.

über den Künstler

Die Stadt und das urbane Leben, Orte der Freizeit und der Passage bilden das Milieu einer sehr gegenwärtigen und vordergründig sicheren Welt in der Malerei Kate Waters. Sie zeigt Sujets, in denen privat wirkende Momente im öffentlichen Raum ihren selbstverständlichen Platz finden. Es sind Augenblicke der Betrachtung anderer Menschen und Momente des Sehens selbst, Passanten auf einer belebten Berliner Straße oder leere Gassen Venedigs bei Nacht. Sie erscheinen im natürlichen Licht der Tages- und Jahreszeiten, aber auch im künstlichen Leuchten der Elektrizität und resultieren aus einem fotografischen Blick. Die Bilder könnten Schnappschüsse sein, unmittelbar erfasste visuelle Fragmente eines räumlichen und zeitlichen Ganzen; Korrelationen von Formen und Farben, mit einem unübersehbaren Interesse für die Durchdringung und das Verweben des Stofflichem mit dem Atmosphärischen. Die Präzision des Fotografischen selbst lenkt immer wieder die Aufmerksamkeit hin zur Auflösung der Erscheinungen und der Materie. Der Modus des Flüchtigen findet dabei seinen Halt in der ikonischen Qualität der Räume, deren Selbstähnlichkeit für Beständigkeit stehen. New York, London, Brüssel, Berlin, bevorzugte Motive von Kate Waters Malerei, sie geben als wiedererkennbare Stadträume einer schon langwährend medial vervielfältigen Moderne die funktionale Sicherheit eines künstlich zementierten Habitats.

Die komplexen Systeme greifen routiniert ineinander. Automaten spenden heißen Kaffee, Lautsprecher Musik zur Unterhaltung, Ausstellungshäuser und Straßen sind sauber, das Abwasser fließt geräuschlos davon, nicht weit entfernt von leise ratternden Bahnen, ober- wie unterirdisch. Meist souverän gelingt der erlernte Gebrauch dieser Annehmlichkeiten nach persönlicher Präferenz und einem eingeübtem Maß an Elastizität, bei den gelegentlichen Unannehmlichkeiten und Dysfunktionen, die auch großen und nahezu perfekten Maschinen zu eigen sind. In aller Regel läuft der Film des eigenen Lebens, der sich in Architektur und domestizierte Natur projiziert. Und in diesem doppelten Sinn bedient Kate Waters in ihren bildnerischen Arbeiten Stationen ihres eigenen Bioskops. Sie zeigt auf Leinwand und Papier die Welt als Bühne, unprätentiös, aber mit tiefem Sinn für die Spieler um sie herum.

So wie Untergrundbahnen die Menschen, abgekoppelt vom oberirdischen Verkehr und seinen Hindernissen, schnell von A nach B bewegen, sind sie selbst oft unterwegs, getrieben von inneren Plänen, Zwängen und Routen. Jenseits der zufälligen äußeren Begegnung einander fremder Fußgänger und Flaneure, liegen absichtsvolle und doch oft nur halbbewusste Ambitionen und Leidenschaften auf einer inneren und anderen verborgenen Zielgeraden. Kate Waters spekuliert bei ihrem Blick auf die Welt über die möglichen Gründe und Abgründe auf einer Skala vom dichten Gedränge bis hinein in die Einsamkeit, vom umtriebigen Geschehen, zu Zeiten vergessener Plätze. In das Alltägliche hinein blendet sich das historische und psychologische Weltgeschehen, durchdringt die Oberfläche, wie die seltsamen Geräusche der Nachbarn hinter angrenzenden Wänden, nur einen Ziegelstein breit, die im Schlaf in den Traum eindringen und Anlass für seltsame Geschichten bilden, die jeder Beiläufigkeit entbehren.

Und was ist, wenn unvermittelt völlige Ruhe einkehrt, vielleicht nach einem Laut, der wie der Fall eines Körpers auf den Boden klingt? Die menschenleeren Gästehäuser am Lido und verwaiste Tankstellen Nordamerikas liegen möglicherweise nicht nur still da. Sie könnten Platzhalter einer vorangegangenen Katastrophe sein, wie sie Richard Matheson in seinem Science-Fiction Roman „I am Legend“ von 1954 beschrieb, wo ein Virus, nahezu vernichtend, die Menschheit befällt. Das Szenario eines spekulativen und sensationslüsternen Geistes?

Kate Waters sucht nicht den Schock und inszeniert ihn nicht. Aber sie spiegelt die durchschlagende Kraft des Horrors menschlichen Erlebens indirekt ein. Sie zitiert Bilder der Kunstgeschichte, die von menschlichen Dramen berichten: „Das Floß der Medusa“ von Théodore Géricault, „Die Hinrichtung der Lady Jane Grey“ von Paul Delaroche, „Der Tod des Marat“ von Jacques-Louis David. Ein Mädchen, das am Michaeler Platz in Wien am Beckenrand von Rudolf Weyrs neobarocker Darstellung von Österreichs „Macht zur See“ steht, mag sich in der Sonne wärmen und ein wenig selbstvergessen auf das Treiben der Leute schauen. Aber die Allegorie auf die Stärke des wenige Jahre später untergegangenen K & K Reiches ist auch ein bedrohliches Menetekel für Gegebenheiten, die schon bald ganz Europa, in einem disruptivem globalem Machtgefüge, drohen könnten.

Die schiere Dichte glänzender und unheilvoller Momente, die Europa in einem hohem Maß beschwert, ist auch Teil der Familiengeschichte der Malerin, deren Vater nach dem 2. Weltkrieg in Berlin stationiert war: Germania in Scherben. Vergangene glückliche Momente in der Stadt der Untergänge der Herrscher und ihrer Schutzbefohlenen.

Aber auch ein harmloses Tête-à-Tête auf der Restaurantterrasse eines New Yorker Hotels, mit Blick in Richtung Empire State Building, in das am 28. Juli 1945 ein B-25-Bomber einschlug, ist nie mehr ganz frei um das Wissen späterer historischer Momente. Geschweige denn, von dem früherer Ereignisse und Umstände, die in den USA selbst seltsame Früchte gebaren, die Billy Holliday 1939 in einem Lied Abel Meeropols besang.

Verschiedene Ereignisse, nicht zuletzt die Anschläge den Pariser Club Bataclan 2015, den Berliner Breitscheidplatz 2016 oder auf zwei Shishabars in Hanau 2020 haben den prekären und fragilen Charakter des öffentlichen Raums offenbart. Schon 1981 prägte die US-amerikanische Forscherin Faith Popcorn den Begriff Cocooning, als Angst-getriebenen Rückzug ins Private. In Form der Panikräume, als letztem Refugium im eigenen Haus, hat sich diese Angst baulich manifestiert: der Bunker als das Herz des Heims.

Den trügerischen Charakter dieser Lösung deckte 2002 David Fincher in seinem Film Panic Room auf, nur ein Jahr nach dem verheerenden Anschlag auf das World Trade Center. Hier wird der letzte Zufluchtsort zur Falle. Bereits die Titelsequenz mit Luftaufnahmen der Hochhausschluchten von Manhattan legen nahe, dass die Stadt selbst im Ganzen zum Panikraum geworden war. Die vielfach präsenten bewaffneten Soldaten und Polizisten, die im Stadtraum an neuralgischen Punkten sichtbar eingesetzt wurden, sind inzwischen wieder verschwunden. Ein unterschwelliges Gefühl der Verletzbarkeit ist geblieben.

Die Jahre 2019 und 2020, erst in der Volksrepublik China, dann in vielen anderen Teilen der Welt, rücken das allzu gewohnte und doch äußerst hohe Gut der Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum und zwischen den Ländern, schmerzhaft ins Bewusstsein. Der Rückzug ins Private ist nun vielfach unfreiwillig, wie im Film von Fincher bei den beiden Protagonistinnen Meg und Sarah Altman. Kate Waters führt mit ihren Bildgegenständen dessen schmerzlich vermisste Gegenwelt, den offenen Raum der Stadt und der Urlaubsresorts vor Augen: Spielplätze und Foren einer offenen Gesellschaft. Und mehr noch als zuvor stellt sich die Frage, welche unsichtbaren Risiken die abgebildeten Personen darstellen, welchen Gefahren sie ausgesetzt sein mögen, sobald sie um die nächste Ecke biegen und die Straße überqueren. Vielleicht haben diese Befürchtungen lediglich den Antrieb einer „low flying panic attack“, von der Thom Yorke 2016 in einem Lied der Band Radiohead sang.

In Bildern mit Bewegungsunschärfe gerät der Blick der Malerin ein wenig ins Trudeln. Die Orte verlieren ihren Wiedererkennungswert. Sie erscheinen wie kurze Momente des Schwindels, wenn der Boden schwankt oder der Gleichgewichtssinn temporär aussetzt. Beides keine Fehler, sondern Ausgangspunkte einer tieferen Diagnostik unserer Ära, die sich im Sichtbaren, in Malerei exakt manifestiert. Standby.

Thomas W. Kuhn, Rheydt im März 2020

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